Familienrecht - BGH zur persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung
„Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn alle zwanglosen Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, vergeblich ausgeschöpft sind und die gemäß § 278 Abs. 5-7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist.“
BGH, Beschluss vom 29.03.2023 – XII ZB 515/22
Hintergrund
Die 78-jährige Betroffene befand sich infolge einer Hirnblutung und eines Schlaganfalls in einer spastischen Tetraparese, einer spastischen Lähmung aller vier Extremitäten. Bereits im Jahr 2006 hatte sie ihrer Tochter (Beteiligte zu 1.)) und ihrem Enkel (Beteiligter zu 2.)) Vorsorgevollmachten zur jeweils alleinigen Ausübung erteilt. Bis 2021 wurde sie in häuslicher Intensivpflege 24 Stunden täglich im Haus des Enkels durch einen Pflegedienst betreut, wobei auch der Enkel Maßnahmen der Grundpflege übernahm. Am 03.08.2021 erstattete der Pflegedienst eine Strafanzeige gegen den Enkel wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, laut derer er lebensgefährdende Manipulationen am Beatmungsschlauch vorgenommen haben soll. Am 16.08.2021 wurde die Betroffene durch die vom Amtsgericht zur vorläufigen Betreuerin bestellt, die Beteiligte zu 3.) in eine Intensiv-Wohngemeinschaft verlegt.
Mit Beschluss vom Februar 2022 hat das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Aufenthaltsbestimmung, der Geltendmachung von Rechten der Betreuten gegenüber ihrem / ihrer Bevollmächtigten, Gesundheitssorge, Heimangelegenheiten, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern eingerichtet und die Beteiligte zu 3.) als Berufsbetreuerin bestimmt. Das Landgericht hat die Beschwerden der Tochter und des Enkels der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Tochter zum BGH.
BGH – Rechtsbeschwerde begründet
Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 S. 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Doch scheidet dies aus, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Das ist dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht, wie hier, für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht.
Der BGH ist daher der Auffassung, dass das Landgericht die Betroffene persönlich hätte anhören müssen, das seine Entscheidung ausdrücklich auf das im Beschwerdeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten gestützt hat. Das Landgericht durfte von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht mit der Begründung absehen, die Betroffene sei offensichtlich nicht in der Lage, ihren Willen kund zu tun. Zwar befindet sich die Betroffene derzeit in einem Zustand, in dem sie offensichtlich nicht in der Lage ist, ihren Willen kund zu tun. Das macht es jedoch nicht entbehrlich, sich einen persönlichen Eindruck von der Betroffenen zu verschaffen, da im erstinstanzlichen Verfahren eine Anhörung lediglich durch den ersuchten Richter und mithin keine unmittelbare Kontaktaufnahme des entscheidenden Gerichts mit der Betroffenen erfolgte. Zudem zog das Landgericht Schlüsse daraus, dass seitens des Pflegeheims regelmäßig beobachtet worden sei, wie die Betroffene auf Besuche der Tochter und deren Lebensgefährten mit Weinen reagiere. Schon aufgrund der herangezogenen Beobachtungen des Pflegeheims hätte das Landgericht nicht davon absehen dürfen, sich selbst einen Eindruck von der Betroffenen und möglichst davon zu verschaffen, wie diese auf ihre Angehörigen reagiert.
Die Entscheidung des BGH stärkt die Rechte der Betroffenen im Verfahren zur Bestellung eines Betreuers erheblich. Insoweit sind Betroffene grundsätzlich immer persönlich anzuhören.